Der Goethe der Mathematik
Nach mehr als hundert Jahren nähert sich die Publikation der gesammelten Werke von Leonhard Euler ihrem Ende. Bewältigt ist der Nachlass des grossen Basler Mathematikers damit aber noch nicht.
(Aus "Horizonte" Nr. 109 Juni 2016)
"Es ist einfach viel Ware", sagt Martin Mattmüller. Im Gestell hinter ihm stehen jene 75 Bände der Euler-Gesamtausgabe, die bisher erschienen sind. "Für einen einzelnen Menschen ist es kaum möglich, das alles zu durchdringen." Umso erstaunlicher, dass ein einzelner Mensch die Grundlage dafür erschaffen konnte.
Der Basler Mathematiker Mattmüller ist Sekretär der Euler-Kommission – jenes Organs der Akademie der Naturwissenschaften (SCNAT), das die gesammelten Werke Eulers herausgibt. "Zwei Bände über Astronomie stehen noch aus", sagt der 58-Jährige. "Bis in zwei Jahren sollten sie fertig sein." Damit wäre der Nachdruck von Eulers Publikationen abgeschlossen. Bei der Briefreihe sind noch vier Bände in Arbeit, die in absehbarer Zeit in Druck gehen werden.
Originale lagern in St. Petersburg
Leonhard Euler (1707–1783) gilt als produktivster Mathematiker aller Zeiten – er hat zwei Dutzend Bücher und fast neunhundert Einzelarbeiten geschrieben. Geboren und ausgebildet in Basel, hat Euler den Rest seines Lebens an der Russischen Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg und in Berlin verbracht. Er bereicherte nicht nur die gesamte Mathematik und Physik, sondern befasste sich auch mit technischen Problemen – etwa mit der Verbesserung von Turbinen und Fernrohren. Seine berühmte Formel eiπ=–1 wurde von der Mathematikerzunft zur schönsten Gleichung aller Zeiten gewählt, und er erfand auch eine Vorform des Sudoku.
Im Umfeld der Feier von Eulers 200. Geburtstag 1907 beschloss die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft (heute SCNAT) die Gründung der Euler-Kommission und betraute sie mit der Herausgabe des Gesamtwerks. Das Projekt "Opera Omnia" startete mit viel Elan, die ersten Bände erschienen ab 1911 in rascher Folge.
Doch das Unternehmen geriet mehrfach ins Stocken. So verlor die Kommission in den 1930er Jahren einen Teil ihres Vermögens durch eine Bankenpleite. Überdies mussten die Euler-Handschriften, die für die Edition leihweise aus St. Petersburg nach Basel kamen, zurückgeschickt werden. Gerne hätte die Kommission sie definitiv in der Schweiz behalten, doch die Sowjetunion lehnte selbst einen Tausch mit Lenin-Briefen aus hiesigen Archiven ab. Seither arbeitet man in Basel bei Bedarf mit Fotos und Abschriften der Originale.
Wenig bekannte Grösse
Nach dem Krieg lebte das Projekt zwar wieder auf, in den letzten Jahrzehnten aber ging es eher schleppend vorwärts. Todesfälle von Editoren, oft emeritierte Wissenschaftler, verzögerten das Projekt. Auch die Arbeitsweise hat sich über die Jahrzehnte geändert. Die ersten Bände wurden von Physikern und Mathematikern herausgegeben, hatten nur wenig Fussnoten und kurze Einleitungen. Seit man sich an die Herausgabe der Briefe gemacht hat, wird das Material mit grösserem Aufwand historisch-kritisch aufgearbeitet. Ziel der früheren Vorgehensweise war, Eulers Originalwerke, die oft nicht mehr greifbar waren, der Mathematik und der historischen Forschung zugänglich zu machen. Heute besteht dieses Problem nicht mehr, die meisten Publikationen stehen im Internet.
Hingegen gibt es immer noch zahlreiche Briefe, Notizbücher und andere unpublizierte Handschriften, die in den "Opera Omnia" keinen Platz fanden. "Aus heutiger Sicht würden wir wahrscheinlich der Aufarbeitung dieses teilweise noch nicht analysierten Materials Priorität einräumen", sagt Martin Mattmüller. Es bestehen Pläne, dies nach Abschluss der gedruckten Bände nachzuholen. Das ergäbe nochmals ein Mammutprojekt – und zwar ein digitales.
Lohnend wäre es auf jeden Fall, denn Euler war wirklich eine singuläre Figur, findet Mattmüller: "Die Schweiz hatte keinen Goethe und keinen Mozart, aber wir hatten Euler – einen Mann von absolutem Weltrang. Dessen ist man sich hier viel zu wenig bewusst."
Von Mathias Plüss, Wissenschaftsjournalist. Er schreibt regelmässig für Das Magazin.